Frau Wala atmete kurz durch. Ihren Schülern den Unvollständigkeitssatz zu erklären, erwies sich als schwieriger, als sie gedacht hatte. Immer wieder kamen sie vom Thema ab. Aber sie gab nicht auf. Sie hatten es fast geschafft. »Mit einem System von Axiomen«, fasste sie noch einmal zusammen, »kann ein Thema, wie zum Beispiel die Arithmetik, also das Rechnen mit Zahlen, beschrieben werden.«
»Und dann wollte Hilbert«, fiel Lukas ihr begeistert ins Wort, »eine einzige, riesengroße Zusammenstellung von Axiomen für die gesamte Mathematik aufstellen.«
»Genau«, bestätigte Frau Wala. »Für die Arithmetik hat aber der Mathematiker Kurt Gödel gezeigt, dass es Aussagen gibt, die weder bewiesen noch widerlegt werden können.«
»Wie?« Lukas konnte nicht verstehen, dass bewiesen werden kann, dass etwas nicht beweisbar ist.
»Gödel hat gezeigt, dass es paradoxe mathematische Aussagen gibt«, erläuterte Frau Wala. »Was ein Paradoxon ist, verdeutlicht folgender Satz am besten: Ich lüge.« Sie schrieb den Satz an die Tafel.
Kaspar dachte laut: »Wenn ich lüge, dann ist es gelogen, dass ich lüge. Das heißt, ich sage die Wahrheit, was bedeutet, dass ich lüge, aber das ist ja dann gelogen. Wenn ich aber lüge …«
»Und was genau ist daran die Nichtbeweisbarkeit?«, fragte Viola in das aufkeimende Gekicher hinein.
»Gödel hat in der formalen Sprache der Mathematik einen Satz formuliert, der stark vereinfacht bedeutet: Dieser Satz ist nicht beweisbar.«
Kaspar prüfte die Aussage auf ihre Widersprüchlichkeit: »Wenn es wahr ist, dass der Satz nicht beweisbar ist, dann ist der Satz nicht beweisbar.« Enttäuscht, dass die Schlussfolgerung nicht automatisch in eine Endlosschleife führte, versuchte er es mit dem Gegenteil: »Wenn es nicht stimmt, dann ist der Satz beweisbar, wenn er aber beweisbar ist, wird bewiesen, dass der Satz nicht beweisbar ist.« Kaspar lachte einmal kurz auf, dann ging er wieder über auf das Lügner-Paradoxon: »Wenn ich lüge, dann ist es ja gelogen, dass ich lüge.«
Lukas rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. Er konnte sich nicht damit anfreunden, dass die Mathematik nicht vollkommen war. Frau Wala versuchte, ihm zu erklären, dass jedes ausreichend große System von Axiomen entweder unvollständig oder widersprüchlich war, doch er blieb stur.
Der größte Teil der Klasse folgte dem Unterricht schon längst nicht mehr. Auch Zoe war mit ihren Gedanken woanders: Es war möglich, dass etwas wahr war, aber nicht bewiesen werden konnte. An manches musste man also einfach glauben. Das galt auch für Traumfänger. Sie nahm sich vor, die Nichtbeweisbarkeit zu erwähnen, wenn Felix sich wieder einmal über magische Dinge lustig machte.
Beitragsbild: Fliegende Blätter 1892